Spüren was andere fühlen
 

Lange Zeit ist es mir sehr schwergefallen, über ein bestimmtes Thema zu sprechen, aber ich bin mir sicher, dass ich es wirklich mit euch teilen möchte. Mittlerweile haben viele von euch mitbekommen, wie offen ich sogar über tiefgründige Themen spreche. Das, was ich heute schreibe, ist sogar für meine Verhältnisse ein sehr persönliches, privates Thema. Es erscheint mir als etwas Positives, meine Erfahrungen mit anderen zu teilen, da mir das Bewusstwerden dieses Verhaltens als sehr mitfühlender, empathischer Mensch sehr hilft. Aber ich beginne von Anfang an. Ein Thema, über das ich wirklich kaum spreche, ist meine Mama. Sie ist/war der gutherzigste, liebenswerteste Mensch, den ich je gekannt habe. Ihr intensives Einfühlungsvermögen in meine Probleme hat uns oft emotional entzweit. Das klingt seltsam, aber als ich noch jünger war, hatte ich oft Angst davor, dass sie so genau spüren kann, was in mir vorgeht. Aus Unwissenheit wegen meinem damaligen noch sehr jungen Alter habe ich sie oft gemieden. Bestimmt fällt es einigen von euch schwer, sich das vorzustellen, aber dass emotionale Nähe etwas Wundervolles ist, musste ich erst im Laufe meines Lebens begreifen. Manchmal wünsche ich mir, in die Zeit zurückzuspringen, mit dem Wissen, das ich heute besitze. Natürlich geht das nicht, aber ich kann meine Eindrücke mit euch teilen und so vielleicht dem ein oder anderen beim Umgang mit den eigenen Gefühlen ein wenig helfen. 

 

Seit ich meine Mama kenne, also mein ganzes Leben lang, leidet sie an Depressionen. Oft hat sie nächtelang nicht einschlafen können. Auch heute noch bemerke ich Menschen mit depressiven Verstimmungen oft an der monotonen Art zu sprechen, den wenigen, manchmal sogar regungslos verharrenden mimischen Reizen in ihrem Gesicht und den schwerfälligen, wenig energetischen Bewegungen. Zumindest bei Menschen, die mir nahestehen, nehme ich die feinen, veränderten Verhaltensweisen sehr deutlich wahr. In meinem Alltag bei mir nicht nahestehenden Menschen habe ich gelernt, es gezielt auszublenden, da mich diese vielen Eindrücke sonst erdrücken würden. Oft muss ich nicht fragen, ob jemand schlecht geschlafen hat, denn ich sehe müde Augen sofort. Man erkennt müde Augen, wenn man viele Jahre in welche geblickt hat. Wer so viele Reize wahrnimmt, muss lernen, damit umzugehen. Heute erzähle ich euch, was ich im Umgang mit meiner Mama und ihren starken negativen Emotionen gelernt habe. 

 

Auch heute noch bin ich nicht sehr gut darin, meine Gefühle von anderen abzugrenzen, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Das Wort Abgrenzung ist meiner Meinung nach nicht korrekt. Man kann nicht kontrollieren, was man fühlt, nur die emotionale Reaktion und die Sichtweise darauf kann man verändern. Auch heute noch fühle ich genauso intensiv wie damals, aber meine Sichtweise auf die Wirkung meiner Reaktion hat sich verändert. Wenn man die Gefühle anderer Menschen intensiv wahrnehmen kann, dann ist es sehr schwierig, sich abzugrenzen. Das Gefühl der Person gegenüber ist so intensiv wahrnehmbar, dass man es nicht einfach ignorieren kann. Manchmal habe ich meiner Mama als Kind erzählt, dass ich mich ungerecht behandelt fühle und sehr traurig bin. In solchen Momenten hat sie Sätze zu mir gesagt wie „Die anderen sind ja wirklich ungerecht.“ Oder „Das ist wirklich schlimm, dass du traurig bist“. Sie hat aufgrund ihrer sehr stark vorhandenen Empathie und ihrer Depressionen das Negative ungewollt verstärkt. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, dass ich mich immer schlechter gefühlt habe, wenn ich mit ihr gesprochen habe. Anstatt weniger traurig zu sein, war ich nach dem Gespräch mit ihr noch viel trauriger als zuvor. Es hat mir nicht geholfen, dass sie meine Gefühle immer wieder offen mit trauriger Stimme ausgesprochen hat.

 

Mir hat das Erkennen der Folgen viele Jahre später beim Umgang mit den stark negativen Emotionen anderer Menschen sehr geholfen. Durch das Bewusstwerden meiner Erfahrungen konnte ich mein eigenes Verhalten besser an die in Worten und Gestik gespiegelten Emotionen anderer Personen anpassen. Wenn ich mit einer Person spreche, der es nicht gut geht, möchte ich dieser Person mit meinen Worten Trost spenden, Kraft schenken oder ein wenig von dem emotionalen Schmerz ablenken. Was ich jedoch niemals möchte, ist das Verstärken der Emotionen durch mein stark vorhandenes Mitgefühl und die damit verbundenen gespiegelten Emotionen in Form von meinen eigenen Worten. Einfach formuliert: Es ist für eine traurige Person nicht hilfreich, ebenso traurige Worte zu formulieren. Etwas Tröstendes oder emotional aufbauendes dagegen kann der Person wirklich helfen. Gerade für sehr empathische Menschen, die Gefühle von anderen Personen sehr intensiv und tiefgründig wahrnehmen, kann das manchmal schwierig sein. Das liegt daran, dass es Menschen gibt, die den Schmerz anderer Menschen alleine durch das Beobachten in sich selbst fühlen können. Das kann auch durch Bilder oder Filme ausgelöst werden. Gerade solchen Menschen fällt es oft schwer, sich nicht von dem selbst intensiv wahrgenommenen Schmerz anderer Menschen leiten zu lassen. Ich kenne das Gefühl sehr gut und weiß, wie lange ein solches starkes Wahrgenommenes in mir selbst nachhallen kann. Sich des oben beschriebenen Musters bewusst zu werden, kann empathischen, mitfühlenden Menschen dabei helfen, in Gesprächen mit Mitmenschen Gefühle besser zu regulieren. Mir hat es zumindest sehr dabei geholfen. Immer wenn ich zum Beispiel die Traurigkeit einer anderen Person deutlich spüre, konzentriere ich mich darauf, was der Person helfen kann, nicht mehr so traurig zu sein. Es ist ein gezieltes Fokussieren auf die Auflösung des Gefühls, anstatt in dem Gefühl der Traurigkeit zu versinken. Oft denke ich in solchen Momenten daran, wie ich mich als Kind gefühlt habe. Dadurch mache ich mir bewusst, wie wichtig es ist, dass ich selbst bei jedem noch so intensiven negativen Gefühl einer anderen Person hoffnungsvolle Empfindungen wahrnehmen und vermitteln kann. Allerdings, ist an dieser Stelle noch wichtig zu erwähnen, dass jeder Mensch die eigenen Gefühle selbst auflösen muss. Lange Zeit habe ich versucht, die Gefühle anderer Menschen zu verarbeiten. Es funktioniert nicht. Aber man kann für nahestehende Menschen in schwierigen Zeiten emotional da sein. 

 

Das Beschriebene funktioniert natürlich nur im direkten Gespräch mit Menschen. Vor ein paar Tagen habe ich einen Film aufgrund einer Filmrezension gesehen. Normalerweise bin ich mir sehr bewusst, wie stark brutale Bilder auf mich wirken können. An diesem Abend habe ich aber einen Bericht über den Film gelesen, der wohl schon viele Jahre alt ist. Es wurde darüber gesprochen, wie brutal die Filmszenen in diesem Film sein sollen. Was soll ich sagen, ich hätte den Film nicht anschauen sollen. Ich konnte nicht glauben, dass eine Filmszene so brutal sein kann und habe beschlossen, sie mir anzusehen. Nachdem ich den Film gesehen hatte, war ich zuerst der Meinung, dass ich das Gesehene normal wegstecken kann. An diesem Abend hat es noch funktioniert, doch am nächsten Morgen bin ich mit einem absolut schrecklichen Gefühl der inneren Verzweiflung aufgewacht. Dieses Gefühl war viele Stunden sehr präsent. Es war ein verzögerter, nachhallender Eindruck, der im minutenlangen, verzweifelten gespielten Ausdruck der Schauspielerin in einer sehr brutalen Szene begründet war. Da mich die Bilder im Schlaf nicht losgelassen hatten, war das Gefühl am Morgen so präsent. Nach einigen Stunden konnte ich meine inneren Gefühle wieder sehr gut regulieren, da es sich zum Glück nur um einen nicht echten, sondern nachgespielten Film handelt. Viel schwieriger zu ertragen ist es, zu wissen, dass einige abgespielte Bilder kein Film, sondern brutale Realität in einigen Ländern sind. Im Übrigen habe ich beschlossen, mir nicht noch einmal einen so brutalen Film anzusehen. Die Zeiten sind schon unruhig genug.

 

Vielleicht hilft jedem Menschen, der ähnlich empfindet wie ich der Gedanke, nicht alleine damit zu sein. Es gibt Menschen, die das sehr gut verstehen und nachfühlen können.

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