
Die verschlossene Tür
Vorwort:
Schon vor ein paar Wochen habe ich mir vorgenommen, einen Text über die Angst vor emotionaler Nähe zu schreiben. Da ich ein Mensch bin, der intensive Nähe zu Menschen zulassen kann, wollte ich mich besonders gründlich darauf vorbereiten. Das Schreiben dieses Textes hat somit ein bisschen Zeit in Anspruch genommen.
Die verschlossene Tür:
Mit dem Morgenrot erwacht sie aus dem Schlaf, wo ihre Angst vor Nähe für einige Stunden keinen Platz hat. In ihren Träumen denkt sie an vertraute, innige Zweisamkeit mit ihm, sie merkt nicht, wie die Nacht im Nu verging. Zarte Berührungen gleiten über ihre weiche Haut, die langsamen Küsse seiner Lippen wirken innig und vertraut. Die Augen sind noch geschlossen, doch all die Gedanken sind dennoch bereits in ihr Bewusstsein geflossen. Ihr Verstand ist bereits erwacht und hat sofort an ihn gedacht. Langsam, zögerlich öffnen sich ihre Augen, während das Lächeln ihrer Blicke verrät, sie kann noch an einen schönen Tag mit ihm glauben. Indem sie ihren Körper erhebt, merkt sie, wie die Unbeschwertheit aus ihren Gedanken schwebt. Die Unsicherheit vor Nähe lauert hinter der Freude auf ihn, dennoch genießt sie den Wunsch auf ein Wiedersehen.
Der unerwartete Ton ihres Handys erklingt, während ihre Gedanken noch in der Vorstellung vom bevorstehenden Tag versunken sind. Mit Vorfreude greift sie nach dem Handy, das neben ihr auf dem Tisch liegt, voller Spannung, welche Worte sie gleich liest. Er schreibt ihr liebevolle, einfühlsame Worte, die ihr tiefes Inneres erreichen sollten. Hoffnungsvoll denkt er, diese Zeilen würden ihr große Freude bringen, doch sie merkt, wie die Sorglosigkeit aus ihrem Gesicht immer weiter verschwindet. Er plant eine Reise, denn er möchte eine Zukunft mit ihr. Die Erfüllung eines tiefen Wunsches ist für ihn ein gemeinsames Ziel.
Mit jeder weiteren Minute, die vergeht, spürt sie, wie die scheinbare Enge der umschlingenden Bewegungslosigkeit sich weiter um ihren Körper legt. Schwerfällig setzt sie Schritt vor Schritt, bis sie an der Schlafzimmertür angekommen ist. Die Tür steht weit offen, dennoch kann sie nicht auf ein schnelles Voranschreiten hoffen. Als sie nach mühevollen Schritten den Flur zum Esszimmer betritt, sieht sie, wie der Schlüssel zur Haustüre auf dem Esstisch liegt. Die Tür ist fest verschlossen, Besuch im Inneren ihres Zuhause ist somit ausgeschlossen. Sie möchte nicht unvorbereitet auf andere Menschen in ihren Räumen treffen, sondern ihre Gefühle vor ihnen verstecken. Ihre Augen sind fest auf den Schlüssel gerichtet, da merkt sie, wie die Türklingel ihre verharrend auf den Schlüssel gerichtete Aufmerksamkeit wach kitzelt. Angst löst für einen winzigen Moment die Starre ihrer emotionalen Fesseln, während die Gewissheit, dass er vor ihrer Tür steht, ihren Fluchtreflex entfesselt. Seine wahrhaftigen Absichten engen sie ein, sie wäre jetzt viel lieber allein. Als sie die Tiefe seiner Gefühle nah an ihren spürt, merkt sie, wie ein Teil von ihm ihre Emotionen berührt. Sie möchte ganz weit entfernt von ihm sein, aus emotionaler Nähe kann bei ihr Angst gedeihen. Vermeintlich hat er sie bisher nicht entdeckt, dennoch hat sie sich schnell in einer verwinkelten Ecke in ihrem Esszimmer vor ihm versteckt.
Im dunklen Schatten einer kleinen Nische versteckt sie sich, mit der gefühlten Sicherheit, hier sieht er sie nicht. Ein Wechselspiel aus Wunsch nach Nähe und Bedürfnis nach großer Distanz wird empfunden wie starke Kälte und unerträgliche Wärme im Wechseltanz. Zerrissen zwischen den ganz großen Gefühlen und der Angst, auf wahre intime Nähe zu stoßen. Sie liebt ihn und doch denkt sie sich, bitte sieh mich hier in meiner dunklen Nische nicht. Angst hält das Glück von ihrer wahren inneren Nähe gefangen, ihr verkrampfender, schwer wirkender Körper überdeckt ihr eigentlich vorhandenes Verlangen. Ganz still und leise steht sie da, damit er ihre Anwesenheit bloß nicht wahrnehmen kann. Der Stillstand rankt sich umklammernd an ihren sonst so freudigen Bewegungen entlang, bis keine Regung in seine Richtung mehr flüssig vorhanden sein kann. Ein schmaler Pfad führt aus dem Versteck, doch die Angst hält sie an Ort und Stelle fest.
Seine überraschten, suchenden Augen blicken durch die halb zugezogene Fensterscheibe, während die Gedanken bei ihrem Aufenthaltsort verweilen. Er konnte ihr Weghuschen im Augenwinkel sehen, aber ihr Verhalten nicht verstehen. Gerade noch sehr präsent, erkennt er nicht, warum sie ihm keine Aufmerksamkeit mehr schenkt. Seine Hände greifen nach der Türklinke, während seine Blicke zum Boden sinken. Seine Augen sind nachdenklich auf den kahlen, leblosen Boden gerichtet, bevor er aus ihrer Sichtweite komplett verschwindet. Die Tür ist verschlossen, darüber wundert er sich, denn vor wenigen Tagen hat er ihre vermeintliche emotionale Nähe noch so sehr genossen.
Er ist fort, erleichterte voranschreitende Schritte bewegen sich an den gerade noch beängstigenden Ort. Ihre Hände öffnen das halb zugezogene Fenster, während sie der hereinscheinenden Sonne viel Aufmerksamkeit schenkt. Schwungvoll umgreift sie den Griff, bis das Fenster komplett offen ist. Die fesselnde Schlinge der Starre löst sich, plötzlich ist ihre Unbeschwertheit wieder in Sicht. Tief empfundene Erleichterung strömt durch ihren gerade noch verkrampften Körper, ihr Verstand formt wieder freudige Wörter. Eine Weile steht sie lächelnd da, realisiert noch nicht, was gerade geschah. Ihre Freiheit zu spüren kann so belebend für sie sein, doch die Gedanken an ihn schleichen sich langsam wieder ein. Plötzlich fragt sie sich, wohin er wohl gegangen ist. Sie ist sich wieder gewiss, wie tief verbunden sie mit ihm eigentlich ist. Es gibt keinen Ort, dessen Entfernung weit genug sein kann, die Furcht vor seiner Nähe geht stets einen Schritt vor dem Wunsch nach Nähe voran. Sie vergisst die Angst vor Nähe zu ihm nicht, da der Grund dafür nicht von einer Kilometeranzahl abhängig ist. Sie wünscht sich, dass er jetzt bei ihr ist, weil sie aus der sicheren Entfernung seine Nähe wieder vermisst.
Gedankenversunken sieht sie zuerst nicht, wie ein fremdes Liebespaar nicht weit von ihr entfernt liebevoll zueinander spricht. Sie blickt sie von ihrem Fenster aus an, da keimt Hoffnung, dass vielleicht doch Nähe zu ihm spürbar sein kann. Wehmütige Blicke wandern zu ihren eng verschlungenen Händen, es scheint, nichts kann die beiden momentan voneinander trennen. Als sie die Liebe der beiden sieht, fragt sie sich, soll ich ihm schreiben oder nicht?